Die protestantischen Kirchen erleben eine Zeit der „großen Jubiläen“: die Herausgabe der Kralitzer Bibel (1613), die erste Feier des Abendmahls unter beiderlei Gestalt (1414), der Märtyrertod von Meister Johannes Hus (1415) und Hieronymus von Prag (1416). Welche Bedeutung haben diese und andere Persönlichkeiten und Ereignisse der tschechischen Reformation für den heutigen Menschen?
Die tschechische Reformation begann – was ihren gedanklichen Inhalt betrifft – mit Hus. Johannes Hus ging zum einen von den Gedanken des englischen Dramatikers John Wycliff (1320?-1384) aus, zum anderen knüpfte er an seine einheimischen Vorgänger an. Er lehnte die Verehrung von Personen und Dingen ab, verkündete die Übergeordnetheit der offenbargewordenen, in der Bibel erkennbaren Wahrheit über andere Autoritäten, war bereit dafür sein Leben zu geben. In der Auslegung der tschechischen Geschichte wird die tschechische Reformation für gewöhnlich mit dem Hussitentum verbunden, das entweder als Höhepunkt der tschechischen Geschichte oder als zerstörerische, vandalische Bewegung gewertet wird. Die Hussitenkriege freilich wurden vorwiegend zum Schutz der Freiheit des Gewissens und der Selbstständigkeit des Landes gegen wiederholte Kreuzzüge geführt. Die tschechische Reformation war nicht gewalttätig. Denken wir nur an Peter Chelčický und seine Anhänger, die spätere Brüderunität. Die Hussitenkriege waren nur eine kurze Episode im Vergleich mit der tschechischen Reformation als gedankliche Bewegung. Diese Bewegung entfaltete sich über zweihundert Jahre bis zur Schlacht auf dem Weißen Berg und trug einige bemerkenswerte Früchte.
Das Programm in den Vier Prager Artikeln
Die Vier Prager Artikel waren das Programm des Hussitentums, auf das sich im Jahre 1419 alle hussitischen Parteien einigten. Von der freien Verkündigung des Wortes Gottes (1. Artikel) lässt sich die allgemeine Freiheit des Wortes ableiten. Das Abendmahl unter beiderlei Gestalt (2. Artikel) beseitigte den Unterschied zwischen privilegiertem Priestertum und den anderen. Den Grundsatz, dass Kirche kein weltliches Eigentum besitzen soll (3. Artikel), können wir als Widerstand gegenüber Machtsmissbrauch und Anhäufung von Eigentum verstehen. Die Bestrafung von Sünden in allen Ständen (4. Artikel) führte die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz ein. Diese Gleichheit wurde bei den Hussiten und später in der Brüderunität durch die Anrede „Bruder, Schwester“ ohne Unterscheidung der Stände betont. Im Programm des Hussitentums können wir somit Elemente finden, die auf eine moderne demokratische Gesellschaftsordnung gerichtet sind.
Bildung für alle
Dem entspricht auch die Betonung der Bildung für alle. Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II. war ein Gegner des Hussitentums. Dennoch stellte er fest, dass eine jegliche hussitische Frau die Heilige Schrift besser kennt als manch römischer Priester. Die Sehnsucht nach allgemeiner Kenntnis der Schrift führte die Hussiten und später die Brüderunität zum Bemühen um eine moderne Übersetzung der Bibel in die Nationalsprache mit Erklärungen für Laien (sechsbändige Kralitzer Bibel 1579-1593, letzte einbändige Ausgabe 1613) und zu einer bemerkenswerten Entfaltung des Bildungswesens. Neben dem Grundschulwesen entstanden während der tschechischen Reformation auch Mittlere Schulen (eine Schule in Prag bei der Salvatorkirche finanzierte beispielsweise Peter Wok von Rosenberg). Höhepunkt der gedanklichen Bestrebungen der tschechischen Reformation ist Comenius. Sein allseitiges Bemühen um eine bessere Ordnung der menschlichen Dinge weckt bis heute Respekt.
Religiöse Toleranz
Ein außergewöhnliches Merkmal der tschechischen Reformation waren die Friedensbemühungen und die religiöse Toleranz. Deren Vorläufer war bereits Peter Chelčický, der inmitten der Hussitenkriege gegen Gewalt anging. (Von Chelčický führt ein interessanter Weg gewaltfreier Gedanken durch die Geschichte: Chelčický beeinflusste nachweislich Tolstoj, dieser Gandhi, dieser wiederum M.L. King). Georg von Poděbrady bemühte sich 1462 um eine friedliche Vereinigung Europas – um eine Union, die die inneren Streitigkeiten durch Verhandlung, nicht durch Krieg löst. Zu Hause nötigte Georg die kämpfenden Seiten zum Frieden und nach seinem Tod wurde der Beschluss, dass Glaubensunterschiede nicht durch Kampf gelöst werden dürfen, zum Landesgesetz (Kuttenberger Religionsfrieden, 1485). Dieses Gesetz führte im Lande zu einer Gleichberechtigung von Katholiken und Utraquisten noch bevor in Europa überhaupt die Reformation und damit die Religionskriege begannen. Ganz außergewöhnlich ist auch das gemeinsame Bekenntnis zweier kirchlicher Organisationen: die Kirche unter beiderlei Gestalt und die Brüderunität schufen im Jahre 1575 eine gemeinsame Böhmische Konfession. Der Majestätsbrief Kaiser Rudolph II. aus dem Jahre 1609 endlich bestätigte die Freiheit des Bekenntnisses auch für Untertanen. Dies war etwas völlig Umwälzendes in einer Zeit, in der überall rundherum der Grundsatz cuius regio, eius religio galt, was bedeutete, dass die Untertanen sich dem Glauben ihres Herrn anpassen mussten.
Die tschechische Reformation wurde nach der Schlacht auf dem Weißen Berg mit Macht unterdrückt, doch ihr Einfluss blieb stark. Brüderische Lieder, die bereits im 17. Jahrhundert von katholischen Kantionalen übernommen wurde, erklangen weiter. An den geistigen Inhalt der tschechischen Reformation lehnten sich sowohl die nationale Wiedergeburt und auch die moderne tschechische Gesellschaft (namentlich T.G. Masaryk) an. Doch inwieweit sind diese Ideale bis heute gültig geblieben? Alle Visionen der tschechischen Reformation – die Betonung gesellschaftlicher Gleichheit, Bildung, Gewissensfreiheit, Toleranz und das Bemühen um Frieden – wurden über Jahrhunderte innerhalb der euro-amerikanischen Zivilisation zum selbstverständlichen Bestandteil deren gedanklicher Welt. Dennoch muss um ihre Verwirklichung immer von Neuem gerungen werden.
Wahrheitstreue
In der tschechischen Reformation gab es jedoch noch etwas Grundlegendes, das wir heute, wie es scheint, allmählich aus den Augen verlieren. Dies ist die Betonung der Treue zur offenbar gewordenen Wahrheit (am ausdrucksstärksten bezeugt von Hus – dem Konzil zum Trotz, das ihn zum Schweigen brachte und zum Tode verurteilte). Diese Wahrheit wurde freilich nicht im Sinne gegenwärtiger Betrachtungen verstanden, nach denen „jeder seine Wahrheit hat“. Hus hatte die Wahrheit des Herrn im Sinn, die wir nicht besitzen und die über allem steht, ein höheres Prinzip, das verbindlich für das Gewissen ist und am Ende siegt. Diese Wahrheit des Herrn dürfen wir erkennen oder besser: diese Wahrheit des Herrn gibt sich uns zu erkennen, wenn wir sie demütig suchen. Und dann gilt es, sie zu bekennen, nach ihr zu leben und sie bis in den Tod zu verteidigen, und dies auch, wenn sie „manchmal für eine Zeit unterliegt“ (wie angeblich Georg von Poděbrady meinte).
Die gegenwärtige euro-amerikanische Zivilisation ist in Gefahr, weil sie verbindende Ideale verliert. Wenn ein höheres Prinzip fehlt, das über dem Einzelnen steht, werden moralische Werte relativiert und Ziele verschwimmen. Eine alte Weisheit jedoch lehrt, dass derjenige, der auf höhere Ziele verzichtet, auch bei den kleinen keinen Erfolg hat. Die tschechische Reformation, geleitet von dem Ideal einer übergeordneten Wahrheit, konnte weit voraus blicken. Für den Versuch, etwas von diesen Idealen umzusetzen, wird für gewöhnlich ein hoher Preis bezahlt, wie auch die Geschichte der tschechischen Reformation zeigte. Dennoch dürfen sie nicht aufgegeben werden, denn der Zerfall gemeinsamer Werte oder der Verzicht auf sie bedrohen die Existenz der Gemeinschaft.
Der Text entstand unter Mitwirkung der Mitglieder des Beratungsausschusses für gesellschaftliche und internationale Fragen Miloš Calda, Jan Čapek, Gerhard Frey-Reininghaus, Jindřich Halama, Daniela Hamrová, Miloš Hübner, Ladislav Pokorný, Tomáš Růžička und Daniel Ženatý unter dem Vorsitz von Zdeněk Susa.